Interview mit Jochen Biganzoli, dem Regisseur der Dresdner Erstaufführung von Mathis der Maler
Fast 80 Jahre nach ihrer Premiere in Zürich 1938 erlebt Hindemiths Oper Mathis der Maler jetzt ihre Dresdner Erstaufführung an der Semperoper. Wie kam es dazu?
Dass Dresden sich dieses Hauptwerks aus der Operngeschichte des 20. Jahrhunderts annimmt, war längst überfällig. Entsprechende Bemühungen gab es schon in den Jahren 1957/58: Damals sollte Hindemith in die Regiearbeit einbezogen werden und die musikalische Leitung der Premiere übernehmen. Die Zusammenarbeit kam schließlich aus politischen Gründen nicht zustande, und der Plan landete nach dem Mauerbau für lange Zeit in der Schublade. Im Zuge unserer Arbeit wollen wir auf diesen gescheiterten Plan ebenfalls eingehen und ihn in gewisser Weise aufarbeiten.
Nach den drei frühen Einaktern Mörder, Hoffnung der Frauen, Das Nusch-Nuschi und Sancta Susanna von 1919-1921, die Sie 2013 in Osnabrück inszeniert haben, ist Mathis der Maler Ihre zweite Regiebegegnung mit Hindemith. Welchen Eindruck haben Sie von dem Werk?
Bei den drei Einaktern merkt man: Da ist ein Komponist von Mitte zwanzig, der unbekümmert und ohne Rücksicht auf Verluste komponiert – ein junger Stürmer, der kompositorisch die unterschiedlichsten Dinge ausprobiert und daran offenkundig Spaß hat. Mathis der Maler wirkt im Vergleich dazu viel überlegter und strukturierter komponiert, auch abgeklärter. Hier schöpft ein inzwischen fast Vierzigjähriger aus dem reichen Fundus seiner Erfahrung als Musiker und Komponist von Bühnenwerken. Die Oper ist auch dramaturgisch genau durchdacht. Anders als bei den drei Einaktern, für die Hindemith Stücke von Kokoschka, Blei und Stramm unverändert übernommen hat, stammt das Libretto zu Mathis der Maler von ihm selbst. Die lange, mühevolle Arbeit daran ist ein Indiz dafür, wie sehr ihn die in der Oper aufgeworfenen Fragen beschäftigten: Warum machen wir Kunst, und welche Aufgabe kommt uns als Künstlern in einer Gesellschaft zu?
Was reizt Sie persönlich an diesem Stoff?
Die Beschäftigung mit Mathis der Maler bedeutet für mich unter anderem die spannende Fortsetzung meiner Arbeit mit Opern aus den 1930er Jahren: Simplicius Simplicissimus von Karl Amadeus Hartmann und Dmitri Schostakowitschs Lady Macbeth von Mzensk. In beiden Opern gibt es interessante und ganz unterschiedliche Parallelen zu Hindemiths Oper: Hartmann thematisiert am Beispiel des „reinen Toren“ Simplicius Simplicissimus ein Leben im Umfeld der Greuel des Dreißigjährigen Krieges und bekennt sich am Ende der Oper zur Vision einer besseren Welt ohne Gewalt und Krieg. Schostakowitschs Lady Macbeth von Mzensk wurde zwei Jahre nach der erfolgreichen Uraufführung in der Sowjetunion verboten, weil ihre Musik Stalins Vorstellungen nicht entsprach und als „volksfremd“ und „dekadent“ bezeichnet wurde.
Wie werden Sie mit der historischen Figur Mathis der Maler umgehen?
Abgesehen davon, dass über den Schöpfer des Isenheimer Altars, Mathias Grünewald oder Mathis Gothart Nithardt, nur sehr wenige biografische Fakten bekannt sind: Was in der Oper mit ihm geschieht, ist eine von Hindemith entworfene Fiktion im historischen Gewand. Deshalb kann es mir nicht darum gehen, eine Geschichte aus dem Mittelalter zu erzählen. Mein Zugriff auf das Sujet erfolgt von heute aus, indem ich die vielen Bezugsebenen aufzeige, die Hindemith in seinem Szenario anbietet: So spielt er etwa mit der Verbrennung lutherischer Bücher am Beginn des dritten Aktes sicher auf die konkreten Erlebnisse seiner Zeit an.
Zugleich lässt sich Mathis der Maler auch im Kontext aktueller politischer Ereignisse lesen: Am Beginn der Oper sehen wir Mathis, der nach einem Jahr Auszeit, das er dank der Subventionierung durch den Kardinal ausschließlich der Kunst widmen konnte, das Bedürfnis hat, sich sozial zu engagieren. Dafür ist er auch bereit, Privilegien aufzugeben. Der Mut zu diesem Schritt des Verzichts ist ein Thema, das gerade im Angesicht der heutigen Flüchtlingsdebatte Aktualität besitzt: Warum fällt es einer Gesellschaft, der es so gut geht wie unserer, so schwer, sich solidarisch zu zeigen?
Welchen Einfluss haben Grünewalds Altarbilder auf Ihre Inszenierung?
Im Zuge meiner Vorbereitungen auf das Projekt habe ich in der Karlsruher Kunsthalle die dort ausgestellte „Tauberbischofsheimer Kreuzigung“ von Grünewald besucht. Beim Gang durch die Abteilung „Sakrale Kunst“ geht man zunächst an Werken von Meistern wie Hans Baldung Grien, Cranach oder Dürer vorbei. Vorherrschende Farbtöne sind Braun, Gold, Dunkelrot, viel Blattgold, und man ist beeindruckt von der Pracht dieser Gemälde. Doch als ich dann die „Tauberbischofsheimer Kreuzigung“ erreichte, schossen mir spontan Tränen in die Augen. Die ungeheure Intensität dieses Gemäldes, sein Realismus und die Wirkung seiner Farbgebung berühren unmittelbar. Dieser Künstler malt Wahrheiten, er schaut nicht weg, sondern nimmt den Schmerz der Welt wahr und bannt ihn auf die Leinwand. Ich glaube, Hindemith hat sich als Sujet für seine Oper ganz bewusst auf einen Künstler konzentriert, der sich nicht dem künstlerischen Mainstream unterwarf, sondern Werke von existenzieller Wirkung schuf.
Verraten Sie uns, welche szenischen Eindrücke wir auf Ihrer Bühne zu erwarten haben?
Mathis der Maler ist meines Wissens die erste Oper, in der ein Kunstwerk nicht nur als Dekoration fungiert, sondern ein integraler Bestandteil eines Bühnenwerkes ist. Im sechsten Bild der Oper nahm Hindemith die Altartafel „Die Versuchung des heiligen Antonius“ als visuellen Ausgangspunkt für die Geschehnisse auf der Bühne. Wir haben diesen Ansatz weiterverfolgt und werden – soviel kann ich verraten – bekannte und unbekanntere Kunstwerke unterschiedlicher Epochen auf die Bühne bringen, die – affirmativ, kontrastierend oder auch provozierend – Bezüge zur Handlung zulassen. So wollen wir einen „Denkraum“ schaffen, der beim Publikum Assoziationen zu den verschiedenen Themen der Oper ermöglicht: Fragen nach Zivilcourage, Kulturpolitik und der Aufgabe von Kunst. Mathis der Maler transportiert unterschwellig auch Hindemiths persönliches Schicksal in der Nazizeit: Zu nennen sind hier Wilhelm Furtwänglers fehlgeschlagener Versuch, am „Fall Hindemith“ die Unabhängigkeit der Kunst von politischer Einflussnahme zu fordern; die Angriffe und Anfeindungen gegen Hindemiths Musik und seine Person, die 1936 zu einem Aufführungsverbot seiner Werke in Deutschland führten; die Uraufführung von Mathis der Maler in Zürich und die Emigration in die Schweiz bzw. USA. Und schließlich steht auch die Frage im Raum: Wie hätte ich selbst mich 1934 verhalten?
Jochen Biganzoli ist seit 1999 freiberuflich als Regisseur tätig und hat erfolgreich an den verschiedensten Theatern gearbeitet. Seine Inszenierung von Paul Hindemiths Einaktertriptychon Mörder, Hoffnung der Frauen – Das Nusch-Nuschi – Sancta Susanna am Theater Osnabrück wurde bei der Kritiker-Umfrage der Zeitschrift „Opernwelt“ von Gerhard Rohde (F.A.Z.) für die Spielzeit 2012/13 als „Aufführung des Jahres" nominiert. Bei der Autoren-Umfrage der Zeitschrift „Die deutsche Bühne“ – Spielzeit 2012/13 erhielt die Inszenierung außerdem eine Nennung in der Kategorie „Herausragender Beitrag zur aktuellen Entwicklung der Oper“.
Im September 2013 debütierte Jochen Biganzoli erfolgreich an der Hamburgischen Staatsoper mit der Inszenierung von Der Meister und Margarita von York Höller, für die er den Rolf Mares Preis 2014 der Hamburger Theater in der Kategorie „Herausragende Inszenierung“ verliehen bekam.
Susanne Schaal-Gotthardt