Konzertstück für zwei Altsaxophone
Erzählen Sie uns bitte etwas über Ihren Vater Sigurd Raschèr.
Carina Rascher: Mein Vater hatte in den 1920er Jahren in Stuttgart zunächst Klarinette studiert, dann aber entschieden, sich ganz dem Saxophon als klassisches Konzertinstrument zu widmen. Anfang der 1930er Jahre kam er nach Berlin. Dort war er an der Aufführung von Werken beteiligt, in denen ein Saxophon im Orchester vorgesehen ist – etwa in Ernst Kreneks Oper Jonny spielt auf. Auch die Saxophonpartie in Hindemiths Oper Cardillac hat er damals übernommen.
Außer solchen Orchesterstellen gab es zu diesem Zeitpunkt, in den späten 1920er und frühen 1930er Jahren, nur sehr wenig Originalliteratur für klassisches Saxophon …
… und deshalb ist mein Vater, jung und unbekümmert wie er war, auch auf Komponisten zugegangen und hat sie gefragt, ob sie nicht ein Werk für Saxophon für ihn schreiben möchten. Es gab ja bis dahin kaum Literatur für Saxophon, keine Lehrer, keine Spieler. Mein Vater betrat also Neuland, als er sich dazu entschloss, sich für das klassische Saxophon einzusetzen. Dabei war es doch das erklärte Ziel von Adolphe Sax gewesen, ein Instrument für die klassische Musik zu erfinden, das als Verbindungsglied zwischen Holzbläsern, Blechbläsern und Streichern dient; denn es ist ja ein klanglich sehr flexibles Instrument.
Das erste Stück, das auf Anregung meines Vaters entstand, war das Konzert für Alt-Saxophon und Orchester op. 6 von Edmund von Borck, einem damals vielversprechenden jungen Komponisten, der 1944 im Alter von nur 37 Jahren in Italien gefallen ist. Mein Vater hat das Konzert nach der Uraufführung im Oktober 1932 mehrfach gespielt, so auch mit den Berliner Philharmonikern unter Eugen Jochum. Möglicherweise war Hindemith bei diesem Konzert zugegen.
Wie kam es zum Kontakt mit Hindemith?
Ermutigt von dem Erfolg, den mein Vater mit dem Konzert von Borcks erzielt hatte, traute er sich im Frühsommer 1933 auch Paul Hindemith zu fragen, der damals schon ein sehr erfolgreicher und bekannter Komponist war und wie mein Vater in Berlin lebte. Hindemith sagte sofort zu und kündigte an, ein Konzertstück für zwei Altsaxophone zu schreiben. Vor lauter Respekt gegenüber den berühmten Komponisten hat sich mein Vater gar nicht getraut zu fragen, wer denn der zweite Saxophonspieler sein sollte, da beide Stimmen gleich anspruchsvoll sind!
Bald darauf verließ Ihr Vater, ein entschiedener Gegner der Nazis, Deutschland.
Er sagte immer, die Wolken über Deutschland seien ihm zu braun geworden… Er ging zunächst 1934 nach Kopenhagen, wo er eine Professur für Saxophon an der Royal Academy of Music annahm. Ein paar Jahre später zog er nach Schweden, wo er seine Frau kennenlernte. Als im September 1939 der II. Weltkrieg begann, befand er sich gerade auf einer Konzertreise durch die USA. Er wurde nach Kuba ausgewiesen und durfte erst 1941 wieder einreisen und seine Familie aus Schweden nachholen. Seinen Lebensunterhalt verdiente er durch Unterricht an diversen Schulen und Universitäten, später konnte er auch seine weltweite Karriere als Saxophonsolist fortsetzen. 1969 gründete er das Raschèr Saxophone Quartet, in dem ich auch Mitglied wurde und mit dem wir viele Jahre lang konzertierten. Es ist auch heute noch weltweit höchst aktiv und erfolgreich.
Was geschah mit Hindemiths Konzertstück?
Das autographe Manuskript hat mein Vater früher immer bei sich gehabt und ein paar Mal auch versucht, es gemeinsam mit einem Schüler aufzuführen, doch er war nie ganz zufrieden mit deren Leistungen… So blieb es lange Zeit in der Schublade liegen. Schließlich hat er es mir beigebracht, und wir haben es 1960 an der Eastman School of Music uraufgeführt, wo er damals unterrichtete – ich war erst 14 Jahre alt! Wir haben es danach oft in Konzerten gespielt, und heute gehört es längst zum Standardrepertoire für alle klassischen Saxophonisten.
Sind sich Sigurd Raschèr und Hindemith noch einmal begegnet?
Wir waren für den März 1964 zu einem Konzert mit Paul Sacher in Zürich eingeladen, bei dem das Konzertstück auf dem Programm stand. Hindemith hatte kurz vor seinem Tod Ende 1963 sein Kommen zu dem Konzert noch angekündigt und der Presse gegenüber seine Freude geäußert, das fast in Vergessenheit geratene Werk zum ersten Mal hören zu können! Leider kam es nicht mehr dazu.
Wo befindet sich heute der Nachlass von Sigurd Raschèr?
Der Nachlass wird an der State University of New York in Fredonia in einem Archiv aufbewahrt. Es enthält die umfangreiche Korrespondenz meines Vaters, rund 9000 Briefe, dazu Instrumente, Audioaufnahmen und Manuskripte der Werke, die mein Vater bei Komponisten aus der ganzen Welt bestellt hat – insgesamt über 200 Werke, darunter viele der heute meistgespielten Werke für klassisches Saxophon. In dieser öffentlichen Bibliothek kann man auch über Sigurd Raschèr forschen, denn dort wird neben seinem Unterrichtsmaterial und weiteren historischen Unterlagen auch die umfangreiche Sammlung von Sekundärliteratur aufbewahrt, die in den letzten sieben Jahrzehnten über ihn geschrieben wurde.
SSG