Hindemith-Jahrbuch / Annales Hindemith XLIV/2015

Das diesjährige Hindemith-Jahrbuch eröffnet mit einem Rückblick auf die Feierlichkeiten zum 40-jährigen Bestehen des Hindemith Instituts Frankfurt im November 2014. In ihrem Festvortrag bietet Frau Professor Dr. Susanne Popp, Leiterin des Max-Reger-Instituts, einen Überblick über die vielfältigen Aufgaben von Komponisteninstituten und deren Wahrnehmung in der Öffentlichkeit. Als zukunftsträchtigste Aufgabe – neben dem Sammeln und Erschließen – wertet sie das Vermitteln der von den Instituten betreuten Kulturgüter, eine Aufgabe, die in der Vergangenheit oftmals vernachlässigt worden sei.
Wilhelm Sinkovicz widerspricht in seinem Beitrag vehement den von Adorno geprägten (Vor‑)Urteilen über Hindemiths Musik, die ihn grob als trockenen Neoklassizisten oder rückwärtsgewandten Formalisten rubrizieren. Dagegen verweist er auf Kompositionen Hindemiths, denen sehr wohl „Stimmungsmomente“ eigen sind oder die durchaus „expressive“ Botschaften vermitteln.
Im Rahmen ihrer Studien zur Geschichte der Frankfurter Mozart-Stiftung untersucht Ulrike Kienzle ein Frühwerk Hindemiths. Als Student am Frankfurter Dr. Hoch’schen Conservatorium bewarb er sich 1914 mit einem Streichquartett-Satz (dem 1. Satz des Streichquartetts Nr. 1 C-Dur op. 2) für ein Stipendium dieser Frankfurter Institution. Die Jury allerdings bevorzugte einen anderen als Begünstigten. Gerade dieser Kopfsatz zeigt, wie der junge Hindemith sich bemüht, traditionelle Gattungsformen aufzubrechen, um individuelle Lösungen anzubieten.
Nina Goslar, Film-Redakteurin beim Fernsehsender ARTE, war 2012/13 maßgeblich an der Synchronisierung von Musik und Film des ersten Bergsteigerfilms In Sturm und Eis / Im Kampf mit dem Berg von Arnold Fanck beteiligt. Als der Regisseur das Filmmaterial im August 1921 in Freiburg im Breisgau zuschnitt, war Hindemith zugegen und bot sich spontan an, die Musik zum Film zu schreiben. Das überlieferte Filmmaterial „deckt“ sich allerdings nicht mit der Partitur. Anhand der Minutenangaben in Hindemiths Autograph lassen sich jedoch Film und Musik „adaptieren“. Frau Goslar schildert anschaulich ihre Erfahrungen bei dieser Sisyphus-Arbeit.
Zur 2000-Jahr-Feier der Stadt Mainz im Juni 1962 erarbeiteten Paul Hindemith und Carl Zuckmayer gemeinsam ein Libretto, das, vom rheinhessischen Dialekt geprägt, Stationen der Mainzer Geschichte in der Art eines Fastnachtumzugs bisweilen humorvoll, bisweilen ernst Revue passieren lässt. Katharina Heinius berichtet über die Entstehung, den Aufbau und die Rezeption dieses höchst selten gespielten Stücks.
Unmittelbar nach der „Machtergreifung“ der Nazis ist zu erkennen, dass die neuen Machthaber auch in Sachen Kulturpolitik rigoros ihre Vorstellungen etablieren wollten. Die bereits Ende der 1920er Jahre von nationalsozialistischer Presse diffamierten Künstler wie Kurt Weill, Bert Brecht oder auch Paul Hindemith wählten verschiedene Strategien, um sich weiterhin künstlerisch betätigen zu können. Ulrich Fischer zeichnet anhand zeitgenössischer Erinnerungen einzelne Situationen nach und zeigt, wie vielschichtig sich bei jedem Einzelnen die Fülle widersprechender Handlungsmotive gestaltet.
Heinz-Jürgen Winkler