Interview mit Fazıl Say
Paul Hindemith (1895-1963)
Sonate für Violoncello und Klavier op. 11 Nr. 3
Erstfassung bearbeitet und ergänzt von Fazıl Say
Im Sommer 1919 komponierte Hindemith eine dreisätzige Sonate für Cello und Klavier. Zwei lebhafte Ecksätze (I: Lebhaftes Zeitmaß, munter und einfach vorzutragen, III: Schnelle Viertel, stets kraft- und schwungvoll) umrahmten einen zweigliedrigen Mittelteil, der die Satzüberschriften: Im Schilf. Trauerzug und Bacchanale trug. In dieser Fassung wurde die Sonate erstmals im Oktober 1919 gespielt.
Zwei Jahre später unterzog Hindemith das Werk einer grundlegenden Bearbeitung. Er komponierte einen völlig neuen Kopfsatz und strich den letzten ersatzlos. Unverändert blieb nur der zweigliedrige Mittelteil, doch ließ Hindemith nun die programmatischen Überschriften weg. Für die Drucklegung trennte er aus dem Manuskript die beiden Ecksätze heraus und schickte den ursprünglichen Mittelteil mitsamt dem Manuskript des neuen Kopfsatzes zum Verlag. Die autographen Partiturseiten der ausgeschiedenen Ecksätze müssen als verschollen gelten, doch sind die komplette autographe Cellostimme sowie umfangreiches Skizzenmaterial zur ersten Fassung überliefert. Für die reizvolle Aufgabe, sich vom erhaltenen Material zu einer Rekonstruktion der Klavierstimme der verschollenen Sätze inspirieren zu lassen, konnte der Komponist und Pianist Fazıl Say gewonnen werden.
Herr Say, Sie haben die Aufgabe übernommen, die Erstfassung der Sonate für Violoncello und Klavier op. 11 Nr. 3 von Paul Hindemith aus den Skizzen zu rekonstruieren. Was hat Sie an dieser Aufgabe gereizt?
Das war eine sehr interessante Aufgabe. Ich hatte nur den zweiten Satz fertig vorliegen, der erste und dritte Satz waren wie ein Puzzle. Die Cellostimme war zwar vollständig, aber in der Klavierstimme fehlten bis zu 80% der Noten. Also habe ich in den ersten drei Tagen zu diesen 20% existierender Teile die Parallelstellen gesucht, die man als Original benutzen kann. Manchmal gab es überhaupt keine harmonische Richtung für wichtige Themen, so zum Beispiel beim Thema A im ersten Satz und beim Thema B im dritten Satz, nicht in der Exposition und nicht in der Reprise. In diesem Fall musste ich subjektive Entscheidungen treffen, wie es klingen sollte.
Lassen Sie uns einen Blick in Ihre „Rekonstruktionswerkstatt“ werfen!
Hindemith hat für das Jahr 1919 ein unheimlich mutiges, ganz modernes Werk komponiert. Hier gibt es sehr viel Pentatonik, sehr viel Polytonalität und sehr viele Ideen aus der Harmonik von Claude Debussy und Alban Berg, und zum Teil auch von Richard Strauss oder Franz Schreker. Man muss den Intervallen, die Hindemith verwendet – der der Tritonus hat eine große Bedeutung – und der Mathematik sehr vorsichtig folgen... Diese Arbeit hat mir viel Spaß gemacht!
Was ich an dieser Sonate außerdem interessant finde, ist, dass sie nicht immer eine Musik für Cello und Klavier ist, sondern das Cello arbeitet oft gegen das Klavier.
Wie viel „Fazıl Say“ wird in der rekonstruierten Sonate stecken?
Ah nein, nicht viel, aber natürlich ist doch etwas Subjektives dabei. Der Anfang des ersten Satzes fehlte komplett, das ist also meine Musik, und genauso fehlte auch der ganze Schluss des dritten Satzes komplett, das sind auch meine Ideen. Ich habe versucht, Ideen in dem technischen und stilistischen Sinne umzusetzen, wie Hindemith es gemacht hätte.
Sie haben Ihre Ausbildung am Konservatorium von Ankara begonnen, also an der Institution, an deren Einrichtung Hindemith in den 1930er Jahren maßgeblich beteiligt war. Ist von Hindemiths Wirken in Ankara heute noch etwas zu spüren?
Das Konservatorium von Ankara wurde von Hindemith 1936 zusammen mit Carl Ebert, Licco Amar (in dessen Quartett Hindemith Bratscher war) und Eduard Zuckmayer gegründet. Das Konservatorium für Musik und Darstellende Kunst Ankara ist wirklich eine der wichtigsten Institutionen der Türkei; fast alle Künstler, die heute bekannt sind, haben dort studiert. Wir haben Hindemiths Briefe an den türkischen Minister, in denen er diktiert, was man für das neue Konservatorium alles kaufen und einrichten soll: Klaviere, Streichinstrumente, Probenräume im Gebäude. All diese Details sind sehr interessant. Ich freue mich darüber, circa 80 Jahre nach Gründung meiner Schule in Ankara mich mit Hindemith auf diese Weise zu treffen und sein Werk fertig zu stellen. Das war eine große Freude und ein innerliches Wohlgefühl.
Das Interview führte Susanne Schaal-Gotthardt