Paul Hindemith
Complete Viola Works
Vol. 2: Sonatas for Viola & Piano and Solo Viola
Tabea Zimmermann (Viola)
Thomas Hoppe (Piano)
Mit dieser Einspielung aller Sonaten für Bratsche solo (op. 11 Nr. 5; op. 25 Nr. 1; op. 31 Nr. 4; 1937) und Bratsche und Klavier (op. 11 Nr. 4; op. 25 Nr. 4; 1939) schließt Tabea Zimmermann ihre Aufnahmen aller Bratschenwerke Hindemiths ab: auf höchstem Niveau, das diesen Einspielungen den Status von Referenz-Aufnahmen gibt, die in ihrer Art wohl kaum zu übertreffen sein dürften. Dass sie spieltechnisch schlechterdings perfekt ausfallen, war nach der grandiosen Einspielung aller Bratschenwerke mit Orchester zu erwarten; doch überzeugen sie gleichermaßen auch durch eine Musikalität, die umso eindrucksvoller wirkt, als diese Sonaten aus gänzlich unterschiedlichen Schaffensepochen Hindemiths stammen und in ihrem stilistischen Habitus vom Impressionismus über Neue Sachlichkeit bis hin zu einer ganz eigenen Art von Klassizität, in ihrer Ausdrucksgestaltung von klangvoll-verhaltener Melancholie bis hin zu rasender Wildheit reichen.
Ein erster Eindruck von der Interpretationskunst Tabea Zimmermanns lässt sich etwa durch einen Vergleich mit konventionellen Interpretationen dieser Werke vermitteln. Sie fasst zum Beispiel die Vorschrift „Ruhig“, die der I. Satz der Duosonate op. 11 Nr. 4 trägt, als Ausdrucksanweisung auf und musiziert ihn, vorzüglich von Thomas Hoppe assistiert, mit klangvoll-entspannter Tongebung, welche dann eine entsprechende Tempogestaltung nach sich zieht, mit der sich dieser Ton auch ganz entfalten kann. Und die Vorschrift „mit bizarrer Plumpheit vorzutragen“, welche Hindemith der sechsten Fugato-Variation im Finalsatz dieser Sonate voranstellt, artikuliert sie weniger, wie zu erwarten, durch rhythmisches Stocken, als vielmehr durch ein differenziertes Ausspielen der – unerwarteten und kompositorisch seltsam „plump“-unbeholfen wirkenden – Chromatik in den Takten 146 bis 151. Dem Kopfsatz aus der Solosonate op. 11 Nr. 5 wiederum gibt sie frei-improvisatorisch wirkende Züge, als finde er zu keiner zwingenden Fortsetzung – ein Eindruck, der von der wohl regulierten, gleichsam „architektonischen“ Form der Passacaglia des Schlusssatzes dann gewissermaßen komplementär ausgeglichen wird, die über dasselbe Thema wie der Kopfsatz gearbeitet ist.
Den rhythmischen Einheitsablauf des ersten Satzes aus der Solosonate op. 31 Nr. 4, mit dem Hindemith auf das Präludium aus Bachs E-Dur Partita für Violine solo anspielt, differenziert sie dynamisch-artikulatorisch: einerseits durch eine von Ligeti so genannte „Illusionsrhythmik“, die durch Verkürzungen der Akzentfolgen den Eindruck erweckt, die Musik beschleunige sich, andererseits durch eine ungemein subtile dynamische Gestaltung, als ob die Musik Takt 25ff. bzw. 78ff. kontinuierlich entschwinde und sich wieder nähere – das alles führt schlechterdings zu ganz neuartigen Hörerlebnissen. Oder auch im Mittelteil des Finales der Duosonate op. 25 Nr. 4 – diese Sonate gilt mit den Ecksätzen als ein Paradigma einer schnöden, ruppigen „Sachlichkeit“ – findet sie zu einem Tonfall, der diesem Satz geradezu etwas Geheimnisvolles gibt, das im Kontrast zum eher nüchtern-konzertanten Charakter der Musik umso eindringlicher wirkt. Und die Pizzicato-Passagen im Mittelsatz der Solosonate von 1937 machen mit einer Artikulation von Akkordgriffen vertraut, die bislang tatsächlich noch nicht zu hören gewesen war und in ihrer musikalischen Bedeutung sich mit dem berühmten Bartók-Pizzicato vergleichen lässt, bei dem die Saite auf das Griffbrett aufschlagen muss. Im ersten Satz der großen Duosonate von 1939 musiziert sie zusammen mit Thomas Hoppe im Reprisenteil die musikalisch bedeutsame Veränderung der rhythmisch-metrischen Konfiguration der Themen subtil aus. Und den berühmten vierten Satz aus der Solosonate op. 25 Nr. 1 mit der notorischen Anweisung „Rasendes Zeitmaß. Wild. Tonschönheit ist Nebensache“ – dieser Satz wurde von Schulhoff, Karl Amadeus Hartmann bis hin zu Ligeti immer wieder nachkomponiert – entfesselt Tabea Zimmermann nicht nur mit spieltechnischer Artistik, sondern gibt ihm eine ganz neue Form von musikalischer „Schönheit“. Kurz: Das alles ist eine interpretatorische Tat für Hindemith!
Giselher Schubert