Welchen Stellenwert hat das Musizieren im Quartett für Sie?
Thomas Zehetmair: Jedes Quartettmitglied ist weit über die Ensemble-Arbeit hinaus aktiv: als Konzertsolist, Lehrer, Dirigent. Die Vorbereitung auf unsere jährliche Tournee mit dem Quartett bedeutet für uns immer eine sehr intensive Phase der musikalischen Arbeit. Wir lernen die Stücke, die wir einstudieren, immer auswendig. Das ermöglicht uns einen besonders tiefgehenden Einblick in Details der Musik, der sich auch positiv auf unsere weitere Arbeit auswirkt.
Nach welchen Kriterien gehen Sie bei Ihrer Programmgestaltung vor?
TZ: Das Repertoire für Streichquartett ist so überaus reich und vielfältig, dass die Wahl natürlich schwer fällt. Wir achten darauf, dass wir neben den klassischen Werken immer auch zeitgenössische Komponisten oder wenigstens Werke des 20. Jahrhunderts im Programm haben. Vor wenigen Wochen haben wir beispielsweise Heinz Holligers neues Werk "Increschantüm" für Sopran und Streichquartett uraufgeführt. Quartette von Debussy, Bartók, Karl Amadeus Hartmann gehören auch zu unserem Repertoire…
Ruth Killius: ... und natürlich von Paul Hindemith!
Welchen Bezug haben Sie zu ihm?
RK: Ich habe schon als kleines Kind angefangen, Bratsche zu spielen. Einmal bekam ich eine Schallplatte geschenkt, auf der Werke für Bratsche von Hindemith eingespielt waren, unter anderem die Solosonate op. 25 Nr. 1 und das großartige Trio für Heckelphon, Bratsche und Klavier op. 47. Diese Platte hat mich ungeheuer stark beeindruckt, und seither war es um mich geschehen: Ohne die Musik Hindemiths kann ich gar nicht sein. Vielleicht hätte ich mich ohne diese Anregung gar nicht dazu entschieden, Musikerin zu werden. Eben deshalb war es für mich so wichtig, dass wir auch als Quartett Hindemith ins Repertoire nehmen.
TZ: Für mich als Geiger lag Hindemith zunächst nicht ganz so nahe wie für Ruth. Doch auch ich habe schon früh Stücke von ihm kennen- und schätzen gelernt: beispielsweise die Solosonate op. 31 Nr. 2 mit dem Variationensatz über „Komm, lieber Mai“, das zweite Streichquartett op. 10 von 1918 oder die Kammermusik Nr. 4 (das sogenannte Violinkonzert). So richtig eingetaucht in sein Werk bin ich, als wir vor einigen Jahren das vierte Quartett op. 22 einstudierten. Kaum zu fassen, welche Originalität sich etwa im zweiten und dritten Satz dieses Quartetts offenbart. Überhaupt hat Hindemith doch ein vielfältiges OEuvre hinterlassen, das in jeder Hinsicht spannend und lohnenswert für den Musiker ist.
Nach dem Quartett op. 22 haben Sie nun auch das fünfte Quartett op. 32 in Arbeit, mit dem Sie in der kommenden Saison auf Tournee gehen werden. Was fasziniert Sie an Hindemiths Quartetten?
RK: Beeindruckend ist vor allem, dass sie so unglaublich gut komponiert sind, sie liegen wunderbar „in der Hand“. Da macht sich natürlich Hindemiths eigene umfassende Erfahrung als praktischer Musiker bemerkbar; beide Quartette hat er ja für „sein“ Amar-Quartett komponiert, in dem er Bratsche spielte. Es ist wirklich schade, dass heute so wenige Streichquartett-Ensembles sich dieser Stücke annehmen. An ihrer Qualität liegt das sicherlich nicht.
Wie reagiert das Publikum auf Hindemiths Quartette?
RK: Wir erhalten immer viel Zuspruch; meistens sind die Leute sogar regelrecht verblüfft, wie gut ihnen die Musik gefällt. Den zweiten Satz aus op. 22 spielen wir gerne als Zugabe, ohne vorher anzukündigen, dass er von Hindemith stammt. Die Überraschung ist jedesmal groß, wenn wir das Rätsel auflösen.
Sie sind seit Jahren regelmäßig im Hindemith Institut zu Gast und haben hier autographe Materialien studiert. In welcher Weise machen Sie sich dieses Quellenstudium für Ihr Musizieren zunutze?
RK: Schon unser erster Besuch beim damaligen Institutsleiter Giselher Schubert hat uns die Augen darüber geöffnet, welchen Schatz das Hindemith Institut mit seinen vielfältigen Dokumenten und mit dem fundierten Wissen der Mitarbeiter birgt. Als praktische Musiker sind wir ganz besonders glücklich darüber, wenn wir auf eine solche Weise unterstützt und motiviert werden. Das sind die Impulse, die für unsere Arbeit so wichtig sind. Das intensive Studium des Materials öffnet neue Perspektiven auf das Werk, das persönliche Gespräch mit den Wissenschaftlern gibt wertvolle Anregungen und lässt uns immer neue Facetten der vielseitigen Künstlerpersönlichkeit Paul Hindemith entdecken.
TZ: Ein konkretes Beispiel: In der Ausgabe des Quartetts op. 22, mit der wir gearbeitet haben, sind Metronomangaben verzeichnet. Im Institut haben wir aber Schallaufnahmen des Stücks aus den 1920er Jahren mit dem Amar-Quartett hören können. Sie zeigen, dass Hindemith damals viel schnellere Tempi gewählt hat. In einem langsameren Tempo wirkt das Stück viel schwerfälliger und behäbiger. Ich bin nicht sicher, ob wir das Quartett ohne die Informationen, die wir im Institut erhalten haben, so spielen würden, wie wir es jetzt tun. Wir sind sehr dankbar für solche Erkenntnisse und lassen sie in unsere Interpretation einfließen.