Hindemiths erste abendfüllende Oper Cardillac op. 39 entstand in Zusammenarbeit mit dem elsässischen Dichter Ferdinand Lion. Dieser bot dem Komponisten im Sommer 1925 an, ein Libretto auf der Grundlage der Novelle Das Fräulein von Scuderi von E.T.A. Hoffmann zu schreiben. Hindemith beteiligte sich intensiv an der Erarbeitung des Librettos und vollendete die Musik zur Oper im Frühsommer 1926; letzte Retuschen nahm er noch kurz vor der Uraufführung vor, die im November 1926 an der Dresdner Semperoper unter der Leitung von Fritz Busch stattfand.
Im Paris des 17. Jahrhunderts treibt ein Raubmörder sein Unwesen. Alle Opfer hatten Schmuck vom berühmten Goldschmied Cardillac getragen, der ihnen geraubt wurde. Angestachelt von diesem Nervenkitzel, bittet eine Dame ihren Kavalier, ihr als Liebesbeweis ein Schmuckstück Cardillacs zu schenken. Als er ihr nachts einen goldenen Gürtel überreichen will, wird er ermordet. Cardillac erhält in seiner Werkstatt Besuch vom Goldhändler, der sich über den eigenartigen Mann wundert. Die Tochter ist hin- und hergerissen zwischen der Liebe zum Vater und zu ihrem Geliebten, dem Offizier. Auf ihre Frage, ob sie mit ihm gehen darf, reagiert Cardillac gleichgültig. Der Offizier ahnt, welche Bedeutung die Schmuckstücke für Cardillac haben, und kauft eine Kette. Abends wirft sich Cardillac einen weiten Umhang um, streift eine Maske über und verlässt die Werkstatt. Der Offizier erkennt Cardillac in dem maskierten Angreifer auf der Straße. Der Goldhändler, der den Überfall beobachtet hat, beschuldigt Cardillac, doch der Offizier bezichtigt, um Cardillac zu schützen, den Goldhändler der Tat. Die Tochter erkennt nun die Wahrheit. Als Cardillac dem Volk verkündet, den Täter zu kennen, droht das Volk, die Werkstatt zu plündern, wenn er den Namen nicht nennt. Derart in die Ecke gedrängt, gesteht er ohne Reue seine Taten. Er wird vom Volk niedergeschlagen, greift sterbend nach der Kette und küsst sie.
Hindemith komponierte zu dieser veritablen Kriminalgeschichte eine virtuos-konzertante Musik, die vielfach auf autonom-musikalischen Formen basiert. Diese sind auf subtile und vielschichtige Weise mit dem Text verbunden. So ist das Duett der Tochter mit Cardillac (Nr. 10), in dem die vergebliche Suche der Tochter nach ihres Vaters Aufmerksamkeit zum Ausdruck kommt, als Fugato konstruiert; im Wechselgesang zwischen Cardillac und dem Volk (Nr. 17) bildet das Modell der Passacaglia das insistierende Fragen der Menge nach dem Namen des Mörders ab. Die fast durchgängig kontrapunktische Anlage der Komposition führt ebenso wie die solistisch konzipierte, auf harte Kontrastwirkung und scharfe Konturen ausgerichtete Instrumentation zu einem „neobarocken“ Klangbild, das signifikant für Hindemiths Schaffen jener Jahre ist. In ihrer Tendenz zu Stilisierung und Abstraktion kongruiert die musikalische Gestaltung zur expressionistischen Diktion von Sujet und Text.
Cardillac zählte in den 1920er Jahren zu den meistgespielten Opern und wurde Hindemiths erfolgreichstes Bühnenwerk überhaupt.
SSG
Cardillac Programmheft an der Wiener Staatsoper