Im Gespräch mit Christoph Eschenbach
Maestro Eschenbach, wie weit reichen Ihre ersten Begegnungen mit Hindemiths Musik zurück?
Als 14Jähriger dirigierte ich für DGG eine Aufnahme von Hindemiths Spiel für Kinder Wir bauen eine Stadt. Und als junger Mann habe ich Hindemith sogar noch selbst als Dirigenten erlebt: 1960 leitete er in Hamburg anlässlich seines 65. Geburtstags das NDR-Sinfonieorchester; auf dem Programm standen u.a. seine Sinfonie „Die Harmonie der Welt“ und Jeu des Cartes von Strawinsky. Ich erinnere mich noch gut an die kleine, etwas gedrungene Gestalt auf dem Podium … Freilich kann man ihn nicht zu den wirklich großen Dirigenten seiner Zeit rechnen, aber er war einer, den die Orchestermusiker respektiert haben und der durchaus solide Arbeit geleistet hat. Das kann man auch auf den erhaltenen Schallaufnahmen gut hören.
Sie halten der Musik von Paul Hindemith schon seit vielen Jahrzehnten die Treue …
… und das war zu meiner Studienzeit, in den 1960er Jahren, gar nicht so einfach. Damals wurde Hindemith in eine Art geistige Verbannung geschickt – schon wieder, nach der Nazizeit nun zum zweiten Mal –, und zwar von dem einflussreichen Musikphilosophen und –soziologen Theodor W. Adorno. Der hatte zur Musik seine speziellen Ideen und seinen eigenen Geschmack, den er bei seinen Studenten durchsetzen wollte. Das ist ihm in weiten Teilen gelungen, bis er – Ironie des Schicksals – von seinen eigenen Studenten zu Fall gebracht wurde. In der geistigen Atmosphäre der damaligen Zeit war Hindemith also nicht gern gesehen. Wir als Studenten haben darunter gelitten, und sich gegen diesen Mainstream zu stemmen, war wirklich nicht einfach.
Mit welchen Stücken von Hindemith haben Sie sich damals befasst?
Damals habe ich zunächst Klaviermusik von Hindemith kennengelernt: Ich habe die drei Klaviersonaten studiert und auch zum Teil öffentlich aufgeführt. Später, als ich Künstlerischer Leiter des Tonhalle-Orchesters in Zürich war, habe ich mit Begeisterung drei der Blechbläser-Sonaten gespielt: die Trompetensonate, die Basstubasonate und die Posaunensonate – ganz großartige, verrückte Stücke! Hindemith ist mir so im Laufe meines Musikerlebens immer vertraut geblieben, heute natürlich hauptsächlich durch das Dirigieren. Leider habe ich für Kammermusik heute nur noch sehr wenig Zeit, und so müssen wohl einige meiner Hindemith-Wünsche Träume bleiben …
Welche wären das denn?
Zu meinen großen Wünschen gehört es, mit einer Sopranistin Das Marienleben einzustudieren. Dieser Liederzyklus nach Gedichten von Rainer Maria Rilke ist wieder ein Meisterwerk Hindemiths, eine Musik mit unglaublich viel Tiefgang. Doch ich weiß nicht, ob mir das noch gelingt, denn meine Zeit ist aufgrund meiner zahlreichen Orchesterverpflichtungen doch sehr limitiert. Sowohl die frühe Fassung von 1923 als auch die überarbeitete Fassung von 1948 sind für Sopranistin und Pianisten sehr anspruchsvolle Werke, an denen man sehr lange arbeiten müsste.
Welche Erfahrungen machen Sie, wenn Sie Werke von Hindemith auf Ihre Konzertprogramme setzen möchten?
Das von Adorno in die Welt gesetzte Stigma, das Hindemith anhaftet, ist leider Gottes immer noch wirksam. Sowohl in Europa als auch in den Vereinigten Staaten erlebe ich es immer wieder, dass die Veranstalter sich scheuen, Hindemith aufs Programm zu setzen – vor allem, weil sie fürchten, dass das Publikum ausbleibt. Ich kämpfe darum, dass sich das ändert, immerhin mit Erfolg: Jedesmal reagieren sowohl die Orchestermusiker als auch das Publikum enthusiastisch auf diese Musik. Ich kann deshalb nur jeden Veranstalter zu mehr Mut bei der Programmierung von Hindemith animieren. Immerhin ist er der größte deutsche Komponist des 20. Jahrhunderts.
Was schätzen Sie an seiner Musik?
Im Zusammenhang mit Hindemith fällt ja oft das Wort „akademisch“ – ein irreführendes Vorurteil, das dazu führt, dass viele Menschen Vorbehalte gegen Hindemiths Musik entwickeln. Dabei ist sie einfach nur außerordentlich gut gemacht, und insbesondere die langsamen Sätze sind von einer ungeheuren emotionalen Wucht. Denken Sie nur an den langsamen Satz der Symphonie in Es oder die „Grablegung“ in der Symphonie „Mathis der Maler“. In diesen Sätzen spürt man auch deutlich Hindemiths Bezüge zu Bruckner, den er sehr verehrt hat und dessen Symphonien er oft dirigierte.
Seit vielen Jahren gehören Werke von Hindemith zu Ihrem Repertoire als Dirigent – was waren Ihre stärksten Eindrücke?
Die Oper Mathis der Maler habe ich 2010 in einer ausgezeichneten Inszenierung in Paris dirigert, mit Matthias Goerne in der Titelrolle. Besonders am Herzen liegt mir gerade ein ganz wunderbares Stück, When Lilacs Last in the Door-Yard Bloom’d. A Requiem „For those we love“, das Hindemith 1946 in den USA komponiert hat. Ich habe es vor drei Jahren zusammen mit dem National Symphony Orchestra aufgeführt – man glaubt es kaum, als Washingtoner Erstaufführung! Und das, obwohl dieses auch „Fliederrequiem“ genannte Chorwerk ja eigentlich in mehrfacher Hinsicht ein genuin US-amerikanisches Stück ist: Sein Text basiert auf dem gleichnamigen Gedichtzyklus des großen Nationaldichters Walt Whitman, in dem die Ermordung von Abraham Lincoln betrauert wird. Hindemith wiederum komponierte es im Gedenken an den Tod des US-amerikanischen Präsidenten Theodore Roosevelt 1945 und wollte es ursprünglich sogar „An American Requiem“ nennen.
Welche Pläne schmieden Sie für die Zukunft?
Das „Fliederrequiem“ werde ich Anfang 2018 zusammen mit dem NDR-Symphonieorchester in der Hamburger Elbphilharmonie aufführen und zugleich auch eine CD-Einspielung produzieren. Diese Aufnahme wird die nächste in einer ganzen Reihe von CDs mit Werken von Hindemith sein, die ich in den vergangenen Jahren herausgebracht habe. Eine davon, die Einspielung mit Midori als Solistin in Hindemiths Violinkonzert (1939) sowie mit den Symphonic Metamorphosis of Themes by C. M. von Weber (1943) und der Konzertmusik für Streichorchester und Blechbläser op. 50 (1930), hat sogar einen Grammy erhalten.
Gerne würde ich auch einmal die Oper Cardillac machen und hoffe immer noch, dass ich dazu Gelegenheit erhalte. Und ich bin dabei, es einzurichten, die sieben konzertanten Kammermusiken aufzunehmen – auch das sind Werke von großer Anziehungskraft.
Vielen Dank für das Gespräch, Maestro Eschenbach!
Susanne Schaal-Gotthardt