Zu Hindemiths Klaviermusik mit Orchester (Klavier: linke Hand) op. 29
Empfänger war der Pianist Paul Wittgenstein (1887-1961), Spross einer schwerreichen Wiener Industriellenfamilie. Der talentierte Pianist hatte im 1. Weltkrieg seinen rechten Arm verloren, konnte seine Karriere aber fortsetzen, indem er Repertoire-Werke für zwei Hände für die linke Hand arrangierte und Komponisten beauftragte, Werke speziell für Klavier linke Hand zu schreiben. Einen derartigen Auftrag hatte er vermutlich Ende 1922 auch Hindemith erteilt. Dieser ahnte allerdings wohl schon, dass sein Werk dem musikalisch im Wien der Jahrhundertwende sozialisierten Wittgenstein fremd und ungewohnt erscheinen würde. In einem Begleitschreiben zu seiner ersten Notensendung versuchte er deshalb vorzubauen: „Lieber Herr Wittgenstein, hier erhalten Sie die letzten drei Sätze Ihres Stückes und ich hoffe, dass sich nach Durchsicht der Partitur Ihr Schrecken wieder legen wird. Es ist ein einfaches, vollkommen unproblematisches Stück und ich glaube sicher, dass es Ihnen nach einiger Zeit Freude machen wird. (Vielleicht sind Sie am Anfang ein wenig entsetzt, aber das macht nichts.) Verstehen werden Sie das Stück auf jeden Fall – bei irgendwelchen Zweifelsfällen bin ich ja immer da, um Ihnen genaue Auskunft zu geben.“
Hindemiths Befürchtungen sollten sich bewahrheiten: Der Pianist, der mit dem Kauf des Autographs auch ein lebenslanges Exklusivrecht für Aufführungen der Klaviermusik mit Orchester erworben hatte, spielte das Stück niemals öffentlich, überließ es aber auch keinem anderen Solisten. Zwar erlosch dieses Recht mit seinem Tode im Jahr 1961, doch nun verweigerte seine Witwe jahrzehntelang auch nur die Einsicht in das Manuskript. Erst nach ihrem Tod im Jahr 2001 trat der Nachlassverwalter in Verkaufsverhandlungen mit der Fondation Hindemith. Bei der Begutachtung des Manuskripts stellte sich allerdings heraus, dass es sich bei dem angebotenen Notenmaterial nicht um die originale Partitur, sondern um die Abschrift eines unbekannten Kopisten handelte. Gleichwohl ließ sich die Authentizität des Notentextes anhand von particell-artigen Skizzen zum ersten, dritten und vierten Teil bestätigen, die sich in Hindemiths Nachlass erhalten haben.
Da das autographe Notenmaterial, das Hindemith 1923 an Wittgenstein gesandt hatte, als verschollen gelten musste, bildete die Abschrift bislang die wichtigste Quelle zu dem Werk, das im Dezember 2004 von Leon Fleisher und den Berliner Philharmonikern unter der Leitung von Simon Rattle uraufgeführt wurde.
Den Status einer Hauptquelle verliert die Abschrift nun, da sich, wie jetzt bekannt wurde, die autographen Notenmateriale in der Autographensammlung des Basler Nationalökonomen Arthur Wilhelm (1899-1962) befinden. Über den Zeitpunkt und die Umstände ihres Erwerbs durch Arthur Wilhelm konnte bislang nichts in Erfahrung gebracht werden. Beide Autographe sind in einem hervorragenden konservatorischen Zustand. Wittgenstein hat sofort nach dem Erhalt der beiden Notenlieferungen zahlreiche Fingersätze in Partitur bzw. Stimme eingetragen. Seine Entscheidung, das Stück nicht zu spielen, ist demnach nicht voreilig, sondern nach gründlichem Studium der Noten erfolgt.
Dank der Übergabe der Autographensammlung Arthur Wilhelm als Depositum der Paul Sacher Stiftung, Basel sind diese Autographe nun der Forschung zugänglich gemacht worden
Susanne Schaal-Gotthardt