[aus Paul Hindemiths Kriegstagebuch]
Fronterfahrungen
Am 16. Januar 1918 bricht Hindemith ins vom Krieg nicht direkt betroffene elsässische Dörfchen Tagolsheim südlich von Mulhouse auf. «Die Front ist ungefähr 3 km vor uns. Es geht ziemlich ruhig zu», notiert er am 19. Januar in sein Kriegstagebuch. Als Militärmusiker des «Res. Inf. Reg. 222» hat er in der Kapelle die große Trommel zu schlagen. Einer Freundin schreibt er: «Man hat mir versichert, so genau rhythmisch sei dieses Instrument hier noch nicht behandelt worden. Der Dienst ist nicht arg streng, ich habe viel freie Zeit und kann für mich arbeiten, was ich will.»
Hindemith komponiert im Elsass sein 2. Streichquartett op. 10. Der Regimentskommandeur Graf von Kielmannsegg ist ein großer Musikfreund und erlaubt die Bildung eines Streichquartetts, das ihm regelmäßig vorspielen muss. Mit intensiven Proben für das Quartett und die Regimentskapelle verbringt Hindemith den größten Teil des Tages.
Nach der Verlegung des Regiments nach Flandern wird Hindemith erstmals selbst mit den Kämpfen konfrontiert. Ins Tagebuch schreibt er am 27. Mai: «Gegen Abend werden 8 Bomben in die Nähe des Ortes geworfen. Eine trifft eine Munitionskolonne, die (10 Minuten von uns entfernt) biwakiert. [...] Ein entsetzlicher Anblick. Blut, durchlöcherte Körper, Hirn, ein abgerissener Pferdekopf, zersplitterte Knochen. Furchtbar! Wie gemein und gleichgültig man wird. Ich glaube nicht, dass ich früher hätte ruhig essen oder arbeiten können nach solchem Anblick – und nun sitzt man schon wieder ruhig daheim, schreibt, unterhält sich und ist guter Dinge – und denkt nicht daran, wie bald auch unser Stündlein schlagen kann. – Es wird allmählich unheimlich hier. Ob wir unbeschädigt abrücken werden???»
In den letzten Kriegswochen ist Hindemith zum Schanzen und Postenstehen in unmittelbarer Nähe der Frontlinien abkommandiert. Er übersteht die zahlreichen Gefechte und Bombenabwürfe mit viel Glück unbeschadet und erlebt am 10. November in Flandern das Kriegsende: «Ein Ereignis, das mir Zeit meines Lebens unvergesslich bleiben wird: Als wir schon eingeschlafen sind, werden wir alle zum Oberst bestellt. [...] Der Oberst tritt, von einigen Offizieren begleitet, aus der Schlosstür und verliest bei Kerzenbeleuchtung – ein wunderbares Bild! – Erlasse des Reichskanzlers, Hindenburgs und der 17. Armee. Schaudernd vernehmen wir, dass der Kaiser abgedankt hat, dass Ebert Reichskanzler werden wird, und – oh höchste Wonne – dass in den nächsten Tagen der Waffenstillstand kommen wird. [...] Wir wandeln nach Hause, wie geblendet und können das Neue kaum fassen.»