Sachlichkeit als Stil
Die Erkenntnis «ethischer Notwendigkeiten der Musik» und «moralischer Verpflichtungen des Musikers», die Hindemith über der Uraufführung von Das Marienleben gewinnt, führen ihn zu einer neuen Fundierung seiner Musik, die als «Neue Sachlichkeit» aufgefasst wird. Der Begriff, der 1923 von Gustav Friedrich Hartlaub für Tendenzen in der Bildenden Kunst geprägt und von den Zeitgenossen sogleich auf die Musik übertragen wurde, umschreibt eine gelungene Demokratisierung von Musik, die gegen den Selbstausdruck der Expressionisten ausgespielt wird.
Die Musik der «Neuen Sachlichkeit», als deren Protagonist nun Hindemith gilt, ist unsentimental, nüchtern, formal fest gefügt, überschaubar und prägnant. Sie verschmäht das «Ausdrucksvolle», ohne deshalb ausdruckslos zu sein, und kann sich stilistisch an die Musik längst vergangener Epochen, etwa an Barockmusik, anlehnen. Sie sucht Rückhalt in der Gesellschaft und in den Institutionen, die ein Kulturleben tragen, und sie möchte sich nützlich machen.
Hindemith bestimmt: «Die Zeiten des steten Für-sich-Komponierens sind vielleicht für immer vorbei. Auf der anderen Seite ist dagegen der Musikbedarf so groß, dass es dringend nötig ist, dass sich Komponist und Verbraucher endlich verständigen.»
Und: «Es gibt heute in der Musik kaum technische Aufgaben, die wir nicht bewältigen könnten. Die technischen und rein künstlerischen Fragen rücken ein wenig in den Hintergrund. Was uns Alle angeht, ist dies: das alte Publikum stirbt ab; wie und was müssen wir schreiben, um ein größeres, anderes Publikum zu bekommen; wo ist dieses Publikum?»
Hindemith schreibt vor allem Musik, für die ein Bedarf vorhanden ist und die von ihm verlangt wird: Musik für die Institutionen des Musiklebens (Oper, Konzert, Kammermusik), Musik für neue Medien (Rundfunk, mechanische Instrumente). Während er einerseits für Berufsmusiker hoch-virtuose Musik wie das 5. Streichquartett op. 32, das Konzert für Orchester op. 38 oder die Reihe der Kammermusiken Nr. 2-7 schreibt, fertigt er daneben Arbeiten für besondere Zwecke an, etwa die Drei Anekdoten für Radio (auch: Drei Stücke für fünf Instrumente), die genau die damaligen Sendemöglichkeiten von Musik im Rundfunk beachten.