Wendung zu Gottfried Benn
In Hindemiths Zusammenarbeit mit Benn, die er im Mai 1930 anregt und die 1931 zum Oratorium Das Unaufhörliche führt, bezeugt sich seine Abneigung gegen alle politischen Heils- und Erlösungsprogramme der Zeit, gegen jede politische Auffassung oder Motivierung des Komponierens.
Zudem hat er sich 1930 zweifellos Benns – von Nietzsche beeinflusste – Auffassung von Geschichte zu eigen gemacht: «Die Geschichte ist ohne Sinn, keine Aufwärtsbewegung, keine Menschheitsdämmerungen, ein Motiv Orient, eine Mythe Mittelmeer, sie übersteht den Niagara, um in der Badewanne zu ertrinken; die Notwendigkeit ruft und der Zufall antwortet. Ecce historia! Hier ist das Heute, nimm seinen Leib und iss und stirb. Diese Lehre scheint mir weit radikaler, weit erkenntnistiefer und seelisch folgenreicher zu sein als die Glücksverheißungen der politischen Parteien.»
In Das Unaufhörliche stellt Benn diese Geschichtsauffassung dar. Das Unaufhörliche soll das Sich-Verwandeln der Schöpfung ausdrücken, dem niemand und nichts – weder die Wissenschaft, noch der Fortschritt, die Kunst, die Religion oder die Liebe – standzuhalten vermag und dem sich die Menschen gefasst und gelassen zu überantworten haben.
Hindemiths Musik hat nun alles Experimentelle abgestreift; bei aller Kunstfertigkeit wirkt sie unmittelbar eingängig, steigert sich sogar zu klanglich-harmonischen Apotheosen und gewinnt Wärme und Pathos. Hindemiths Verleger beglückwünscht ihn zu diesem Werk: «Ich kann mir denken, dass die Unentwegten etwas erstaunt sind und vielleicht sogar über Fahnenflucht schreien werden, denn dies Werk ist wirklich die erste ganz große Schöpfung, die nichts mehr mit Theorien und Atonalität und 12 Tonsystem zu tun hat, sondern einfacher, klarer Ausdruck einer neuen Zeit und eines neuen Stils ist.» ⇒