Lebensgefühl in der Weimarer Republik
Das Lebensgefühl der Weimarer Republik in der Stabilisierungsphase zwischen 1924 und 1929 nennen die Zeitgenossen «Amerikanismus». Der Begriff umschreibt einen Wandel der äußeren und inneren Lebensform, den der Zufluss des amerikanischen Kapitals (Dawes-Plan), die Veränderung der Produktions- und Konsumformen, die Herausbildung einer «Angestellten-Kultur» (Siegfried Kracauer) in den Großstädten und die rasch wachsende Bedeutung neuer Medien wie Film und Rundfunk bewirken.
Als «Amerikanismus» gelten das demokratische Prinzip der Gleichheit, die Revolutionierung der Bedürfnisse der breiten Bevölkerung, die Lust am Materiellen, das Massenhaft-werden von Kultur, die Anerkennung der Angestellten als Endverbraucher, das Faszinosum der Technik und des Sports, die offene Befriedigung der Bedürfnisse nach Unterhaltung, Zerstreuung und Ablenkung, die «Entsinnlichung» der erotischen Sphäre, die partnerschaftliche Beziehung der Geschlechter, kurz: das Zweckmäßige, Sachliche, Nüchterne und Geheimnislose.
Die zahlreichen konservativen oder politisch linken wie rechten Kritiker dieses Lebensgefühls identifizieren das demokratische Prinzip hingegen mit Monotonisierung, Gleichmacherei und Entindividualisierung. Entweder kritisieren sie, dass der «amerikanische» Kapitalismus in Verbindung mit der Demokratisierung der Bedürfnisse die Unterschiede abschaffe und in die Reservate des Bürgertums eingreife, oder sie halten diese Demokratisierung für eine Verschleierung der neuen gesellschaftlichen Abhängigkeitsverhältnisse.