Motivation zur musiktheoretischen Arbeit
In der Einleitung zu seiner Unterweisung im Tonsatz. Theoretischer Teil schreibt Hindemith: «Ich kenne die Nöte des Lehrers wie das Streben des Komponisten. Ich habe den Übergang aus konservativer Schulung in eine neue Freiheit vielleicht gründlicher erlebt als irgendein anderer. Das Neue musste durchschritten werden, sollte seine Erforschung gelingen; dass diese weder harmlos noch ungefährlich war, weiß jeder, der an der Eroberung beteiligt war.»
Die Unterweisung im Tonsatz. Theoretischer Teil ist vielfach motiviert: Hindemith leistet als Kompositionslehrer Rechenschaft und verarbeitet seine pädagogischen Erfahrungen; er überdenkt seine eigene kompositorische Entwicklung und die der neuen Musik und fasst seine kompositorischen Erfahrungen zusammen. Und vor allem sucht er in einer Zeit heftigster Angriffe auf seine Musik in der theoretischen Reflexion die Gewissheit, dass seine Musik an den allgemeinen Gesetzen und Prinzipien teilhat, die immer und überall unter allen Umständen gelten. Sie befähigt Hindemith, dem politischen Druck, dem er in Nazideutschland ausgesetzt ist, zumindest eine Zeitlang selbstbewusst standzuhalten. Hindemith verarbeitet Einflüsse von Paul Bekker, Heinrich Schenker, Herman Roth oder Hans Kayser, die er mit den akustischen Forschungen von Friedrich Trautwein an der Rundfunk-Versuchsstelle der Berliner Musikhochschule verbindet und auf seine eigenen Erfahrungen als Musiker bezieht.
Die Ausarbeitung des theoretischen Teils der Unterweisung im Tonsatz stellt sich als unerwartet schwierig und mühselig heraus. Hindemith nimmt sie im November 1935 auf und legt im Februar 1936 eine erste Fassung vor, die er bis 1937 vielfach durchgreifend revidiert. Von einzelnen Kapiteln stellt er bis zu vier verschiedene Fassungen her. Die Arbeit erscheint im Juni 1937 in der ersten Auflage; eine zweite, wiederum eingreifend revidierte Auflage kommt 1940 heraus. Veränderungen für eine dritte Auflage hat Hindemith in den 50er Jahren geplant, aber nicht ausgeführt. Der zweite Band der Unterweisung im Tonsatz, das Übungsbuch für den zweistimmigen Satz, liegt 1939 vor. Den dritten Band Der dreistimmige Satz konnte Hindemith nicht in eine endgültige Form bringen. Demnach ist die Unterweisung im Tonsatz als das einzige seiner großen Projekte unvollendet geblieben.