Neue Welt
Hindemiths USA-Reisen von 1937, 1938 und 1939 dienten auch der Erkundung amerikanischer Lebensformen, auf die er sich bei einer Emigration in die Staaten einzustellen hätte. Die tagebuchähnlichen Aufzeichnungen, die er von diesen Reisen seiner Frau schickt, zeigen sein äußerst genaues, illusionsloses Wahrnehmungsvermögen. Er urteilt ebenso unvoreingenommen wie kritisch-distanziert.
Über seinen ersten Streifzug durch die Straßen von New York berichtet er seiner Frau am 3. April 1937: «Nachmittags ging ich in dem Steinbaukasten spazieren. Es mag eindrucksvoll sein, schön ist's sicher nicht [...] Riesenverkehr natürlich und all das, was dem kleinen Mann imponiert. In der fünften Avenue ein toller Laden am anderen. Der liebe Gott hat die niedrigsten Häuser, seine Kirchen stehen ziemlich verlegen zwischen den wichtigeren Gebäuden. Vielleicht leidet er an falscher Bescheidenheit; es kann aber auch sein, dass er dem Fremden recht vor Augen führen will, was die Leute in his own country alles können.»
Im folgenden Jahr, am 19. Februar 1938, fasst er sein skeptisches Urteil zusammen: «Letztes Jahr schien mir hier alles, die Stadt und der Betrieb, in mannigfacher Hinsicht interessant, heuer ist kaum mehr als die abstruseste Scheußlichkeit zu bemerken. Es muss schrecklich sein, für immer hierher verurteilt zu sein; vielleicht arbeiten und wimmeln die Leute deshalb so viel, weil sie ja sonst zur Besinnung kämen und sähen, in welch einem Zerrbild von Welt sie ihr Leben zubringen.»
Hindemith nennt die Vereinigten Staaten das Land der «begrenzten Unmöglichkeiten» und klagt seiner Frau in Momenten tiefer Depression: «Wenn es Dir nach Deiner Ankunft hier in diesem gottgesegneten Land auch so geht wie mir, werden wir ein erfreuliches Duett abgeben. Ich fürchte, ich werde mich niemals recht eingewöhnen; wenn die Geldgeschäfte einigermaßen laufen und die Zeitläufte nicht immer idiotischere Bahnen ziehen, kann man wirklich nur temporär hier sein, wenn man nicht verzweifeln oder sich dem Suff ergeben will – aber das Zeug hier schmeckt nicht einmal gut!»
Freilich ändert sich Hindemiths Urteil über die Staaten mit seiner wachsenden Vertrautheit mit den Lebens- und Umgangsformen und mit dem Gefühl zunehmender Wertschätzung seiner Arbeit. Über New Haven und die Yale University schreibt er dann: «Es ist der erste Platz im Lande, wo ich fühle, dass man ein bisschen daheim sein könnte...» Im selben Brief heißt es dann sogar: «Ich bin eigentlich völlig darauf vorbereitet, lange hierzubleiben – mit Yale im Hintergrund ist der Gedanke ganz erfreulich – und die Schweiz als Sommer- oder Herbstaufenthalt im Auge zu behalten. Dieses gottverlassene Europa bietet ja für uns doch sonst keinerlei gute Möglichkeiten mehr, und hier kann man noch ungehindert und mit Erfolg arbeiten.»