[aus: «Das Marienleben», Nr. 3: Mariä Verkündigung]
[aus: «Das Marienleben», Fassung 1935-48, Nr. 3: Mariä Verkündigung]
Bearbeitungsprinzipien eigener Werke
Hindemith hat in allen Schaffensperioden, besonders aber seit den späten 1940er Jahren, eigene Werke überarbeitet. Diese Überarbeitungen sind ganz unterschiedlich motiviert. Werke wie die Kammermusik Nr. 6 (1927/30), die Konzertmusik op. 48 (1930), Der Schwanendreher (1935) oder die erste Klaviersonate (1936) revidiert er nach ersten aufführungspraktischen Erprobungen. Auch die Oper Neues vom Tage (1928/29) überarbeitet Hindemith 1953/54 bzw. 1961 aus aufführungspraktischen Gründen.
Die Überarbeitung des Quintetts für Klarinette und Streichquartett op. 30 (1923) erwächst 1954 aus einer ästhetisch-stilistischen Neuorientierung. Die Revision der Lieder nach alten Texten op. 33 (1923) begründen 1925/26 musiktheoretische Erwägungen. Mit der Bearbeitung der Kantate Frau Musica op. 45 (1928) von 1943 passt Hindemith ein Werk dem neuen amerikanischen kulturellen Kontext an. Die Überarbeitung der Oper Cardillac op. 39 (1925/26) von 1952/61 ist wiederum moralisch-ethisch begründet; verändert wird vor allem das Szenarium.
Alle diese Gründe kommen in der Neufassung von Das Marienleben op. 27 (1922/23) zusammen, die Hindemith 1935 beginnt und erst 1948 abschließt. Im ersten Revisionsstadium 1935-1941 überwiegen aufführungspraktische und musiktheoretische Motive: Hindemith vereinfacht die Führung der Singstimme und kommt über dem Bearbeitungsvorgang zu neuen musiktheoretischen Einsichten. 1941, nach einer Durchsicht der geleisteten Revisionsarbeit, entwickelt Hindemith eine neue Werkidee: Er nutzt die größere harmonisch-tonale Ordnung zur Ausarbeitung einer tonalen Symbolik. Hindemith ordnet die harmonisch-tonalen Ereignisse den Handelnden (Maria, Christus, Engel) und den Gefühlssphären (Kleinmut, Unbegreiflichkeit, Unendlichkeit) der Rilkeschen Dichtung zu und unterwirft alle musikalischen Dimensionen einem planvollen Gestalten, das unmittelbar aus Rilkes Gedichten hergeleitet ist.
Hindemith hat in seinem Vorwort zur Neufassung von Das Marienleben seine Revisionsarbeit erläutert, als bewusste und verbindliche kompositorische Entwicklung gerechtfertigt und von einer spezifisch Neuen Musik abgesetzt. Damit forderte er eine Polemik der Anhänger der Neuen Musik gegen diese Revision geradezu heraus; zu einer gerechten Beurteilung der Neufassung von Das Marienleben ist es bis heute nicht gekommen.