[aus «A Requiem For those we love»: When lilacs last in the door-yard bloom'd]
Flieder-Requiem
Obwohl Hindemith grundsätzlich seine Musik von biographischen Zügen freihält und die Autonomie von Musik durch ein ausuferndes musikalisches Ausdrucksprinzip aufgelöst sieht, hat er doch in seiner Musik immer wieder auf die politischen Katastrophen seiner Zeit reagiert. Dabei können durch musikalische Zitate, in die Werke eingestreute Texte, durch Werk- und Satztitel oder erläuternde Hinweise die außermusikalischen Bedeutungen unmittelbar und unzweideutig erschlossen werden.
Hindemiths Emigrationspläne aus Nazideutschland dokumentieren sich im Bratschenkonzert Der Schwanendreher (1935) durch die verwendeten Lieder bzw. den Bezug der ersten Klaviersonate (1936) auf Hölderlins Gedicht ‹Der Main›. Die ‹Trauermusik› aus der Sonate für Trompete und Klavier (1939) reagiert auf den Ausbruch des Zweiten Weltkrieges, das Rezitativ ‹This World's Joy› aus der Sonata for Two Pianos, Four Hands (1942) auf die Kriegserklärung Deutschlands an die Vereinigten Staaten, die den emigrierten Hindemith zum «feindlichen Ausländer» macht.
Mit der Komposition When Lilacs last in the door-yard bloom'd. A Requiem ‹For those we love› (1946) auf das gleichnamige Gedicht von Walt Whitman bezeugt Hindemith dann nicht nur seine Dankbarkeit den Vereinigten Staaten gegenüber, ihm in der Nazizeit Zuflucht, Schutz und Sicherheit gewährt zu haben, sondern er reagiert auch auf die Aufdeckung des Holocaust.
Im Zentrum des Werke (Nr. 8 «Sing on! you gray-brown bird») zitiert Hindemith die jüdische Melodie ‹Gaza›, die er in einem in New Haven verwendeten Gesangbuch mit dem Text der Hymne ‹For those we love› von Walter Charles Piggott fand. Aus dieser jüdischen ‹Gaza›-Melodie hat Hindemith einerseits fast alle tragenden Themen des Werkes abgeleitet, andererseits schmiegt er seine eigene Melodik so an diese ‹Gaza›-Melodie an, dass sie nicht mehr wie ein Zitat wirkt, sondern ganz im Charakter der Hindemithschen Musik aufgeht. Die musikalische Anverwandlung der eigenen Musik an die jüdische Melodie ist programmatisch zu verstehen: Das unfassbare Geschehen, vor dem alle Schreckensbilder versagen, muss in einer identifizierenden Erinnerung festgehalten werden und ist in eine unverlierbare persönliche Erfahrung zu verwandeln.