[Paul Hindemith liest ein Kapitel aus «Komponist in seiner Welt»]
Musikalische Poetik
Hindemith arbeitet 1951 seine Vorträge, die er 1949/50 auf dem Charles Eliot Norton Lehrstuhl für Poetik der Harvard University hielt, als Buch «A Composer's Word. Horizons and Limitations» aus, das er 1959 in einer leicht ergänzten Form als «Komponist in seiner Welt. Weiten und Grenzen» auch in deutscher Fassung vorlegt. Dieses Buch umschreibt seine musikalische Poetik.
In ihm laufen im Sinne eines Resümees alle die zahlreichen Aufsätze, Reden und Vorträge zusammen, die Hindemith seit 1940 in den Vereinigten Staaten und seit 1948 auch in Europa hält. Hindemith erläutert: «Das Buch möchte ein Führer sein durch das kleine Universum der Werkstatt eines Musikschaffenden.» Und: «Von einem Mittelfeld grundsätzlicher Musiktheorie wollen wir nach allen Seiten in angrenzend ästhetische, soziologische, philosophische und sonstige Erfahrungsgebiete ausschweifen.
Hindemith spürt den Fragen nach, für wen, in welchem Zusammenhang, wie und was zu komponieren sei und stützt sich dabei nicht nur auf seine reichen Erfahrungen als Komponist, Kompositionslehrer, Instrumentalist, Dirigent, Musiktheoretiker oder Organisator, sondern auch auf seine umfassende Lektüre musiktheoretischer und ästhetischer Traktate. Seine Kriterien entnimmt Hindemith tendenziell allen Epochen. Das aktuelle Musikleben, wie Hindemith es auffasst, muss den höchsten Ansprüchen standzuhalten trachten, die einmal bestanden und vielleicht vergessen worden sind. Diese Ansprüche findet er in den Schriften von Boethius und Augustinus entwickelt.
Hindemith beschreibt den Unterschied zwischen «bewusster» und «gefühlsbetonter Musikwahrnehmung» als eine vom Hörer zu leistende Tätigkeit, durch die ein «akustischer Eindruck» in eine «wahre musikalische Erfahrung» verwandelt wird. Die «musikalische Inspiration» vergleicht er mit einer blitzartigen Erhellung der Landschaft: Ebenso hätte ein Komponist das zu schaffende Werk wie in einer «Vision» zu erschauen und möglichst verlustfrei zu fixieren. Das Vermögen zu «Visionen» hält Hindemith für voraussetzungslos gegeben, die Fähigkeit zur Realisierung der «Vision» hingegen für erlernbar.
Als «Arbeitsmaterial» des Komponisten beschreibt Hindemith melodische, harmonische und rhythmische Gesetzmäßigkeiten, die unter allen Bedingungen gelten und die je nach «Technik und Stil» des Werkes zu differenzieren sind. In der ebenso selbstlosen wie altruistischen Hingabe des «Interpreten» an das Werk beobachtet Hindemith ein Moment von Melancholie; er plädiert für die historisch-authentische Aufführungspraxis und bestimmt illusionslos den Sinn der Ausbildung von Komponisten: « [...] das Komponieren, obwohl einer Berufung dienend, ist kein Beruf; [...] die Erziehung von Musikern, nicht von Komponisten ist die Aufgabe.» Junge Komponisten warnt Hindemith: «Seien Sie [...] auf Missachtung, Boykott und üble Nachrede vorbereitet. Vertrauen Sie jedoch der Kraft Ihres Werkes.» Er schließt: « [...] denke nicht an dich selbst, frage immer nur, was kann ich dem Nächsten geben. Der innerste Grund für solche Bescheidenheit ist die Überzeugung des Musikers, dass jenseits aller rationalen Erfahrung und aller Kunstfertigkeit eine Region der Vision des Unerforschbaren liegt, in der die verschleierten Geheimnisse der Kunst wohnen – gefühlt, doch nicht erklärt; gebeten, doch nicht befohlen; sich neigend, doch nicht sich unterwerfend. Wir können diese Region nicht betreten, wir können nur hoffen, als einer ihrer Verkünder auserlesen zu sein.»