[aus: «Messe» für gemischten Chor a capella: Kyrie]
[aus: «Pittsburgh Symphony», 3. Satz: Ostinato]
Weiterentwicklung der Musiktheorie
Hindemith gibt in den Vorträgen, die er seit 1955 hält, sowie in der deutschen Fassung seiner musikalischen Poetik ‹A Composer's World› seinem musiktheoretischen Denken eine entscheidende neue Wendung. Er rückt das Konzept der «Gesamttonalität» als Inbegriff aller nur denkbaren Formen von Tonbeziehungen in den Mittelpunkt seiner Überlegungen, aus deren Bereich in den einzelnen Werken immer nur eine bestimmte Art von Tonalität als «Auswahltonalität» wirksam sein kann. Die besondere Art von Tonalität als «Auswahltonalität» muss immer erst in die Werke hineingetragen und kompositorisch verwirklicht werden; sie ist das Resultat und nicht mehr die Voraussetzung zweckmäßiger kompositorischer Arbeit.
Keinesfalls gibt Hindemith damit seine Überzeugung auf, dass die Musik Phänomene wie etwa die unterschiedliche Wertigkeit von Intervallen kennt, die von Natur aus gegeben sind und unter allen Bedingungen gelten. Aber er lässt nun offen, wie sich solche Phänomene in einem Werk auszuwirken haben. Sie können ebenso offen hervortreten wie unterdrückt werden, müssen aber vom Charakter des zu schreibenden Werkes her legitimiert sein. Nach dieser Auffassung erscheint die Atonalität nur noch als eine besondere Form von Tonalität, welche die kompliziertesten Formen von Tonbeziehungen bevorzugt.
Die musiktheoretische Weitung seiner Überlegungen wird jedoch von einer wachsenden Polemik gegen die Neue Musik der Zeit begleitet. Hindemith wirft ihr ein unbekümmert-verantwortungsloses, blindes, der Wissenschaft entlehntes Fortschrittsdenken vor, das er bereits 1955 in die ökologische Katastrophe treiben sieht. Er hält der Neuen Musik der 1950er Jahre vor: «Neue Horizonte hat man freilich eröffnet, aber die Weiten, die man erblickt, sind wie diejenigen endloser Meere und Sandwüsten für Menschen unbesiedelbar.»