Kuhhirtenturm
Im Oktober 1923 zieht Paul Hindemith mit seiner Mutter und seiner Schwester Toni in den Kuhhirtenturm auf der Südseite des Mains. Der aus dem späten 13. Jahrhundert stammende Turm, ein letztes Relikt der mittelalterlichen Befestigungsanlagen von Sachsenhausen, war im 19. Jahrhundert als Wohnung des «Kuhhirten» genutzt worden und stand seit 1888 wegen Baufälligkeit leer. Hindemith wird wohl über den Kunsthistoriker Fried Lübbecke auf die Möglichkeit aufmerksam gemacht, den Turm als Wohnung zu nutzen, und erhält vom Magistrat der Stadt Frankfurt im April 1923 die Genehmigung dazu. Bedingung ist, dass er die Kosten für Renovierung und Umbau selbst trägt.
Bei der Finanzierung kommt Hindemith ein lukrativer Kompositionsauftrag zu Hilfe, den er Anfang des Jahres 1923 erhalten hat. Der österreichische Pianist Paul Wittgenstein, der im Ersten Weltkrieg seinen rechten Arm verloren hatte, bestellt bei Hindemith die «Klaviermusik mit Orchester (Klavier: linke Hand)» op. 29, die im Mai 1923 fertiggestellt ist. Das Honorar in Höhe von 1000 US-Dollar entspricht zu diesem Zeitpunkt des Hyperinflationsjahrs 1923 etwa 30 Millionen Mark.
Hindemith lässt eine neue Treppe einziehen, Telefon und Dampfheizung legen und ein Bad in den Turm einbauen. Bei seinem Einzug im Oktober 1923 heißt es in einem Zeitungsbericht: «Am alten Kuhhirtenturm schwebten Klavier und Harmonium, Tische und Betten an einem Flaschenzug empor, um durch die Fenster im Innern zu verschwinden. […] Man glaubt nicht, wie viel gemütliche Räume diese fast zwei Meter starken Mauern übereinander bergen. […] Möge Paul Hindemith, der zur Zeit mit dem Amarquartett sein jüngstes Werk in Wien aus der Taufe hebt, noch lange Jahre glücklichen Schaffens in seinem Turme verleben!»
Hindemith lebt bis zu seinem Umzug nach Berlin im Jahr 1927 im Kuhhirtenturm; seine Mutter und die Schwester Toni bis zu seiner Zerstörung im Oktober 1943.