[Paul Hindemith spielt aus «Sonate für Bratsche allein» op. 25/1, 4. Satz: Rasendes Zeitmaß. Wild. Tonschönheit ist Nebensache]
Das Marienleben
Hindemith gewinnt seit der Uraufführung des Einakter-Triptychons den Ruf eines rücksichtslos provozierenden Avantgardisten, der sich durch eine Reihe weiterer Werke sogar noch verstärkt. Die Kammermusik Nr. 1 op. 24 Nr. 1 bietet in ihrem Schlusssatz «Finale 1921» ein wüstes Zeitportrait, das im Zitat eines Foxtrotts und im Aufheulen einer Sirene gipfelt.
Die Sonate für Bratsche allein op. 25 Nr. 1 trägt im 4. Satz die Spielanweisung «Rasendes Zeitmaß, wild, Tonschönheit ist Nebensache». Da Hindemith selbst diese Sonate häufig vortrug, ist er mit dieser Art von Musik geradezu identifiziert worden. Über den «Ragtime» aus der Suite 1922 op. 26 für Klavier schreibt Hindemith: «...Spiele dieses Stück sehr wild, aber stets sehr stramm im Rhythmus, wie eine Maschine. Betrachte hier das Klavier als eine interessante Art Schlagzeug und handle dementsprechend.» Hindemith zeichnete zu diesem Werk ein Titelblatt, eine Straßenszene in einer Großstadt, die unmittelbar etwas vom Charakter dieser Musik ausdrückt.
Aber daneben entstehen ganz andere Werke, die nichts Grelles, Rüdes, Provozierendes besitzen und Hindemith zu einer neuen Auffassung vom Sinn seiner Musik führen werden. So hat er selbst den Liederzyklus Das Marienleben op. 27 (nach Rainer Maria Rilke) als einen ersten Höhepunkt seines Komponierens empfunden: «Ich habe die Stücke sehr gern und bin froh, dass sie mir so gut gelungen sind. Ich bin sicher, dass sie bis jetzt das Beste von mir sind...»
In späteren Jahren gesteht er sogar ein: «Der starke Eindruck, den schon die erste Aufführung auf die Zuhörer machte – erwartet hatte ich gar nichts –, brachte mir zum ersten Male in meinem Musikerdasein die ethischen Notwendigkeiten der Musik und die moralischen Verpflichtungen des Musikers zum Bewusstsein...»