[«In einer Nacht ... Träume und Erlebnisse» für Klavier, op. 15, Nr. 9: Programm-Musik]
Hindemiths Expressionismus
Seit 1919 beginnt Hindemith seinem Kompositionstalent zu trauen und sich auch als Komponist zu verstehen. Dieses neue Selbstverständnis entfesselt in ihm eine Produktivkraft sondergleichen. Von 1919 bis 1921 komponiert er neben zahlreichen Unterhaltungsmusiken, Parodiestücken und der umfangreichen Filmmusik Im Kampf mit dem Berg eine Solosonate, zwei Duosonaten, zwei Streichquartette, zwei Liederzyklen, eine Liedsammlung, zwei Klaviersuiten, eine Klaviersonate, drei Operneinakter und den Rag Time (wohltemperiert). In diesen Werken löst er sich von der «spätromantischen» Ausdruckswelt seines Frühwerkes und bildet in engem Anschluss an die zeitgenössische Dichtung einen eigenen Expressionismus aus.
Das 2. Streichquartett op. 10 sowie die sechs Sonaten op. 11 sind die Werke, in denen sich Hindemith stilistisch neu orientiert. Er selbst hat das bestätigt, indem er auf Skizzen zur Sonate für Violoncello und Klavier op. 11 Nr. 3 notiert: «Hier wird gemausert!»
Machen sich in diesen Werke noch Einflüsse von Brahms, Strauss, Debussy, Reger oder Busoni bemerkbar, so sind dann in den Klavierstücken In einer Nacht op. 15 oder im 3. und 4. Streichquartett op. 16 bzw. op. 22 alle fremden Einflüsse überwunden. Hindemiths Expressionismus ist in diesen Werken weniger als ein gänzlich ungebundener, freier Selbstausdruck des Komponisten zu verstehen, sondern vielmehr als ein wachsendes Vertrauen in die rein musikalische Ausdruckskraft des denkbar vielgestaltigen musikalischen Materials, das er aus allen Sphären aufgreift. Man findet in diesen Werken Parodistisches, Unterhaltendes, Komplexes, Spielfreudiges, Ausdrucksvolles, Einfaches, Groteskes, Ausdrucksloses oder Lapidares zugleich, die von einem vitalen Elan des Musikmachen zusammengehalten werden.