Prinzipien und Kategorien
Hindemiths Unterweisung im Tonsatz. Theoretischer Teil ist eine Materiallehre, keine Kompositionslehre. Sie geht nicht von einem bestimmten Kompositionsstil aus, den sie musiktheoretisch verallgemeinert, sondern von der natürlichen Beschaffenheit der Töne. Sie untersucht den musikalisch brauchbaren Ton akustisch-physikalisch und versucht, die grundsätzlichen Beziehungen zwischen Tönen theoretisch zu erfassen. Hindemith untersucht das vorkompositorische Material, den «Werkstoff», mit dem ein Komponist sein Werk «baut».
Hindemith geht von zwei akustischen Phänomenen aus: der Obertonreihe, die jeder erklingende Ton mit sich führt und ihn charakteristisch einfärbt, und den Kombinationstönen, die sich einstellen, sobald zwei Töne zusammenklingen. Aus der Obertonreihe leitet Hindemith eine melodische Verwandtschaftsfolge der zwölf Töne der chromatischen Tonleiter ab, die er «Reihe 1» nennt. Sie hat die abnehmende Verwandtschaftsfolge:
Aus den Kombinationstönen leitet er eine zunehmende Spannungsfolge der Intervalle ab, die er «Reihe 2» nennt:
Die mit «Reihe 1» und «Reihe 2» systematisierten und bewerteten melodischen und harmonischen Phänomene kehren in allen entsprechenden Dimensionen der Musik wieder, die Hindemith mit einigen neuartigen Kategorien beschreibt:
1. Die Spannungsfolge der Intervalle in der «Reihe 2» begründet eine «Phänomenologie aller Klänge». Hindemith stellt eine Tabelle zur Akkordbestimmung auf, die er in zwei Hauptgruppen gliedert (A: ohne Tritonus; B: mit Tritonus) und nach den Intervallbestandteilen (mit Sekunde; mit Septime usw.) sowie der Lage des Grundtones unterteilt.
2. «Harmonisches Gefälle» nennt Hindemith die Wert- und Spannungsunterschiede, die sich bei einer Abfolge von Klängen ergeben.
3. «Stufengang» nennt Hindemith die Folge der Grundtöne, die einen größeren harmonischen Zusammenhang tragen.
4. Der «Sekundgang» ist nach Hindemith ein Hauptgesetz melodischer Baukunst; es besagt, dass sich die Haupttöne einer Melodie in Sekundschritten aufeinander beziehen müssen.
5. Das Prinzip der «übergeordneten Zweistimmigkeit» besagt, dass in einem vielstimmigen Satz die Bassstimme mit der nächstwichtigen höheren Stimme einen sogleich verständlichen zweistimmigen Satz bilden sollen.