Historische Musiktheorie
In der Bibliothek der Yale University, der berühmten «Beinecke Rare Book & Manuscript Library», findet Hindemith eine umfangreiche Sammlung von musiktheoretischen Schriften aus der Antike bis zur Neuzeit, außerdem wertvolle Manuskriptsammlungen mit Musik vom 14. bis zum 17. Jahrhundert vor. Diesen reichen Fundus kann er für seinen Unterricht in «History of Music Theory» nutzen, den er in der ersten Hälfte eines jeden Schuljahres immer samstags zwei Stunden lang erteilt.
In dem Kurs werden Musiktraktate aus über zwei Jahrtausenden gelesen: von den Griechen (Pythagoräer, Platon, Aristoteles, Aristoxenos) über die Kirchenväter (vor allem Augustinus) und andere Autoren des frühen Mittelalters (Boethius, Isidor von Sevilla, Guido von Arezzo) bis hin zu Texten des Spätmittelalters (Johannes de Grocheo, Tinctoris), der Renaissance (Vicentino, Zarlino) und des Barock (Kircher). Für seine eigenen Studien fertigt Hindemith Exzerpte von Originalquellen und Sekundärliteratur an, die er in einer umfangreichen Karteikartensammlung festhält. Die intensive Auseinandersetzung mit der Musiktheorie verschiedenster Epochen gibt ihm etliche Anregungen zur Entwicklung seiner eigenen musikalischen Ethik, wie er sie in der 1951 auf englisch erschienenen Schrift A Composer's World formulieren wird.
In seinem Unterricht bemüht sich Hindemith darum, die theoretischen Schriften nicht nur zu studieren, sondern ihre Inhalte auch anhand von Kompositionen zu demonstrieren und damit die praktische Musikausübung als festen Bestandteil in seinen Theorie-Unterricht zu integrieren. So wird der Samstagsunterricht im zweiten Schulhalbjahr zu einer regelmäßigen Chor- oder Instrumentenprobe des Collegium Musicum umfunktioniert.
Der Unterricht in «History of Music Theory» ist bei den Studenten außerordentlich beliebt, wie aus dem Auswertungsbogen einer studentischen Befragung hervorgeht: «Organisation und Umsetzung dieses Kurses sind hervorragend. Manche Studenten meinen jedoch, dass zuviel Wert auf eine Menge von Namen und Traktaten gelegt wird, die wenig praktischen Wert für die Studenten zu haben scheinen. Strengere Auswahlkriterien bei der Zulassung der Studenten zu diesem Kurs könnten diejenigen ausschließen, die ihn nur besuchen, um Prüfungen zu vermeiden und ins Collegium Musicum eintreten zu können.»