[aus: «Das lange Weihnachtsmahl», Oper in einem Akt]
Stilistische Merkmale
Hindemiths Spätwerk, das er etwa ab 1957 mit dem Oktett zu schreiben beginnt, schließt außerordentlich eng an die altehrwürdigsten Gattungen und fast immer an fremde Musik der unterschiedlichsten Herkunft an; es entwickelt Modelle sinnvollen Komponierens unter intensivster Präsenz von Tradition.
Die Madrigale (1958) knüpfen an die bedeutendste Gattung weltlicher Vokalmusik, die Motetten (1941-1961) an diejenige geistlicher Vokalmusik an. Die Pittsburgh Symphony (1958) zitiert ein Volkslied, einen Song sowie Weberns Symphonie op. 21 und vergegenwärtigt damit sowohl die Sphäre amerikanischer Volksmusik-Darbietung als auch die Reihentechnik. Der Marsch für Orchester über den alten ‹Schweizerton› (1960) vereint die Trommeln der Basler Fasnacht mit dem Lied des Werktitels und dem Studentenlied ‹Gaudeamus igitur›, das Concerto for Organ and Orchestra (1962/63) den Pfingsthymnus ‹Veni creator spiritus› mit der alten ‹L'homme armé›-Weise. Der Einakter The Long Christmas Dinner (1960/61) auf ein Libretto von Thornton Wilder knüpft an ein englisches Weihnachtslied an, die Kantate Mainzer Umzug (1962) auf einen Text von Carl Zuckmayer an Mainzer Karnevalsmusik, die Messe (1963), Hindemiths letztes Werk, an die alten Techniken des Fauxbourdon, der Isorhythmie und der Figurenlehre.
Trotz dieser technisch-stilistischen Vielfalt und Offenheit, die der Wandlung seiner musiktheoretischen Auffassungen entspricht, wirken die Werke keinesfalls eklektisch oder willkürlich, sondern überaus homogen und geschlossen. Während Theodor W. Adorno das Verhältnis der Neuen Musik zur Tradition mit der Formulierung umschrieb: «Das Verhältnis zur Tradition setzt sich nun in einen Kanon des Verbotenen», geht es Hindemith dagegen um eine zeitgenössische Musik, welche den Ansprüchen und Maßstäben der Tradition standzuhalten vermag. Hindemith möchte in seinem Spätwerk Tradition «aufheben», also sowohl bewahren als auch im Zeitgenössischen aufgehen lassen.